Seit einiger Zeit fühle ich mich sehr angekommen in meinem Ich, in meinem Sein. Ich empfinde eine Standhaftigkeit und eine innere Ruhe. Stürme und windige Zeiten verstrubeln zwar noch meine Haare, werfen mich aber nicht um. Ein schönes Gefühl. Dieses Empfinden lässt mich den Blick weiten, lässt mich in mich hineinhorchen. Früher hatte ich selten Zeit oder Muse, heute spüre ich Interesse zu sehen, was in mir drin ist.
So zum Beispiel habe ich das Interesse, Dinge, die mich seit Jahren begleiten und die ich zwar erkenne wohl aber nicht durchschaue, zu eruieren. Was fühle ich da? Was spüre ich? Was ist mein Bedürfnis? Jetzt, da ich Standhaftigkeit und Ruhe empfinde, scheint der Raum gekommen zu sein, wo dieser Blick in mein Inneres entstehen darf.
Die einen oder anderen haben meine Worte «Ein Teil von mir» gelesen. Darin beschreibe ich einige Jahre meiner Jugend- und jungen Erwachsenenzeit. «Dieser Teil von mir» hat einiges in mir ausgelöst, wohl aber auch hat einiges in mir «diesen Teil mitgeprägt». Damit will ich sagen, weil ich so bin, wie ich bin, bin ich jetzt so, wie ich geworden bin. Und jetzt habe ich die Gelassenheit, Emotionen und Verhaltensweisen von mir zu hinterfragen, weil ich keine Scheu oder keine Mühe dafür empfinde.
Und so beschäftige ich mich mit meiner Emotion, mir meine Bedürfnisse einzugestehen. Meine Anliegen in Worte zu fassen und für meine Wünsche einzustehen. Seit ich eine junge erwachsene Frau bin, habe ich eher Mühe, meinen Bedürfnissen Platz zu geben. Bedürfnisse, die nach Schutz, nach Hilfe, nach Anlehnung rufen. Bedürfnisse die nach Unterstützung bitten. Denn sie lösen in mir ein Gefühl der Machtlosigkeit aus. Ein Gefühl von Hilflosigkeit. Die Angst, auf Unverständnis zu stossen. Die Angst, den Schutz nicht zu erhalten.
Ich sehe und spüre diese Hilflosigkeit, die ich seit so vielen Jahren mit mir trage. Oft nicht als Belastung, manchmal jedoch schon. Dann nämlich, wenn das Einstehen für mein Schutzbedürfnis aufkommt, ich es aber runterschlucke. Ihm keinen Platz lasse. Es unterdrücke. Dann spüre ich den Kloss im Hals, das Zuschnüren. Und ich sehe meine Starre, das Verstummen. Dieses Verhalten von mir ist mir nicht neu. Neu ist aber, dass ich nun die Ruhe besitze, sie anzunehmen. Dieses Verhalten nicht frustriert als Schwäche abzutun, sondern mich ihm zu widmen. Hinzuschauen.
Und weil ich hinschaue, sehe und spüre ich, wie sehr ich immer noch den Schmerz in meinem Hals empfinde. Diesen Schmerz, wenn ich ein Bedürfnis runterschlucke, anstatt es mir zu wünschen. Wovor hast du Angst, kleine Fiorina? Wovor fürchtest du dich? Vor Zurückweisung und Ablehnung? Davor, dass du Kontrolle verlierst, weil du schutzbedürftig bist?
Ja, sagt mein kleines «Ich» zu meinem nun grossen «Ich». Ja du hast es gewusst gell. Du hast es immer gewusst. Ich habe es immer gewusst. Aber ich habe es mir nicht erlaubt, mein Bedürfnis. Aus Gründen die ich nicht erläutern kann. Ein Psychotherapeut könnte es sicher, andere vielleicht auch. Ich aber kann es mir nicht erläutern, ich kann es nur annehmen. Jetzt, in meiner Standhaftigkeit und meiner Ruhe. Jetzt, wo ich den Blick nach innen richte und ohne Scheu und Mühe annehmen kann.
Da ist und war immer ein Bedürfnis nach Schutz, Hilfe und Anlehnung. Und da war gleichzeitig immer die Angst, die Befriedigung dieses Bedürfnisses nicht zu erhalten. Also war die naheliegendste Lösung, dem Bedürfnis keinen Platz zu lassen. Runterschlucken, Deckel drauf, Thema beendet. Das lief mehr oder weniger erfolgreich über die letzten zwanzig Jahre. Und jetzt? Jetzt bin ich hier, in einer Gelassenheit, die es mir erlaubt, zuzulassen. Manchmal bräuchte ich Schutz. Ich darf danach fragen. Da wird es Menschen geben, die mir Schutz geben. Manchmal bräuchte ich Anlehnung. Ich darf danach bitten. Da gibt es Menschen, die mir ihre Schulter geben. Manchmal bräuchte ich Hilfe. Das ist in Ordnung. Du darfst hilfsbedürftig sein und wirst trotzdem nicht die Kontrolle über dich verlieren.
Lasse es zu, kleine grosse Fiorina. Du wirst sehen, du wirst es lernen. Du wirst lernen, dass sich der Schmerz im Hals lindern lässt. Du wirst lernen, dass die Worte aussprechbar sind und nicht nur die Tränen zum Ausdruck kommen. Und wenn du verstummen solltest, weil die Angst der Ablehnung zu gross ist, dann verstumme. Dann weine. Es ist ok. Das bist du. Du bist ok. Du selber musst dir deine Bedürfnisse eingestehen, dann tun es auch die anderen.
Und so sitze ich jetzt hier, schreibe diesen Text. Für mich. Für mein kleines «Ich» und mein grosses «Ich». Und als Inspiration für alle die, die spüren, dass da Dinge sind, die Erlaubnis bedürfen, um existent zu sein. Innere Ruhe und das Gefühl mit beiden Beinen stabil und geerdet auf solidem Grund zu stehen kann Weitsicht geben. Weitsicht und Einsicht, dass wir so sind wie wir sind, weil alles so geschah wie es eben geschah. Und manchmal geschehen uns Dinge im Leben, die etwas zum Stolpern bringen. Die etwas verdecken oder verstecken. Manchmal machen wir Erfahrungen, die uns tief erschüttern. Die uns verletzen. Die uns dazu bringen, uns gewisse Bedürfnisse nicht mehr einzugestehen. Das kann ganz unbewusst geschehen. Kann im Verborgenen liegen, ganz lange. Und irgendwann kommt die Ruhe, die uns die Stärke schenkt, das Bedürfnis wieder hervorzuholen und ihm Wertschätzung entgegenzubringen. Das tue ich nun, in reiner Form und ehrlicher Haltung. Und ich bin nicht frustriert, dass ich es bis jetzt runtergeschluckt habe. Ich konnte nicht anders und das ist in Ordnung so.
Sei stumm, wenn du verstummen musst. Weine, wenn dir die Tränen kommen. Aber rede, wenn der Mut da ist, das Bedürfnis in Worte zu fassen ist. Rede und vertraue darauf, dass da jemand ist, der deine Not versteht. Wenn du es nach aussen lässt, dann wird es ersichtlich sein. Und habe Geduld. Mit dir. Mit deinem Gegenüber. Du selber hast all die Jahre gebraucht, um die Ruhe zu finden, so zu denken wie es diese Zeilen ausdrücken. Schenke deinem Gegenüber dieselbe Geduld. Ich weiss dass du das kannst.