Geh weg und bleib ganz nah

Wie bitte? „Geh weg und bleib ganz nah.“ Was für eine ambivalente Aussage. Aber genau das ist es, was klein Napoleon mir gerade ganz deutlich signalisiert. Ein Zwiespalt, eine Zerrissenheit die uns beide fordert. Geh weg und bleib ganz nah. Lass mich los, aber halt mich fest.

Loslassen

Wenn man Kinder kriegt ist vieles was passiert unvorhersehbar. Einiges lässt sich erahnen, vieles überrascht einen. Und zur Zeit ist gerade wieder so ein Moment. Wie aus dem Nichts bin ich konfrontiert mit Emotionen, die ich aus lauter Überraschung nicht bewältigen kann. Und so geht es wohl auch meiner Kleinen. Denn es sind ihre Emotionen, die die meinen hervorbringen. Und wir beide wissen nicht, wie damit umzugehen.

Klein Napoleon, willensstark und selbstständig, hält meine Hand seit drei Wochen und lässt sie nicht mehr los. Klein Napoleon, kämpferisch und voranschreitend, vermisst mich schon, wenn ich noch da bin. Klein Napoleon, vor Energie sprudelnd und lebendig, kann die Trennung von mir nicht tolerieren. Nicht für zwei Minuten, nicht für einen Tag.

Und ich, ich bin unendlich überfordert. Bin ohne Vorwarnung mit dieser Situation konfrontiert und finde keine passende Reaktion darauf. Ich versuche ihr meine ganze Liebe, mein ganzes Vertrauen und die Nähe zu geben. Versuche damit ihre Speicher zu füllen, damit sie ganz voll sind, wenn ich wegen meinem Studium oder meiner Arbeit weg bin. Zeige ihr, dass ich sie verstehe und dass ich ihre Ängste ernst nehme. Schenke ihr Ruhe und Geborgenheit, damit sie sich wohl fühlt.

Aber ich scheine sie damit nicht zu erreichen. Mehr noch, wir schaukeln uns unheilvoll mehr und mehr in die Situation hinein. Je mehr ich ihr Nähe gebe, umso weniger hilft es. So scheint es mir. Je mehr ich ihr ihre Freiheiten lasse, umso mehr ist sie verunsichert. Entscheide ich etwas, kann sie es nicht annehmen. Überlasse ich ihr die Entscheidung, weiss sie nicht, was sie will. Und am Ende – ja am Ende landen wir bei Frustration, Erschöpfung und Unverständnis.

Erschöpfung, ja. Ich bin erschöpft. Unglaublich ausgelaugt. Ausgelaugt von dieser geforderten Nähe, dem Klammern, dem emotionalen Durcheinander. Ich kann es nicht recht machen, weiss doch klein Napoleon gar nicht, was sie will. Aber ich weiss es eben auch nicht, herrgottnocheinmal. Ich weiss nur, dass mir die Nähe Energie raubt. Ich möchte mich abgrenzen. Möchte Raum haben, für mich.

Und da setzt das Schlimmste ein: mein schlechtes Gewissen. Mein wahnsinnig schlechtes Gewissen. Weil ich diese Nähe als Belastung empfinde. Weil ich mir Abstand wünsche. Ich gebe Nähe und gebe Liebe und gebe Verständnis, und es scheint nicht das zu sein, was das Kind glücklich macht. Wohl könnte ich mich auf den Kopf stellen, mit den Händen rudern und den Füssen Trompete spielen – und es wäre nicht dass, was sie glücklich macht. Wie soll ich es denn wissen, wenn sie es nicht weiss? Aber es steht dieser Anspruch im Raum. Zwischen mir und ihr. Mama, mach etwas, dass es mir gut geht. Mama, hilf mir, mir selber zu helfen. Mama, mach dass das Durcheinander weg geht. Aber ich kann nicht. ICH KANN NICHT.

Und manchmal will ich nicht mal mehr. Ich möchte laut rufen: „Liebes Kind, ich weiss, es tut mit dir. Und ich weiss, du bist auf der Suche, und du entwickelst dich. Aber ich kann nichts dafür. Und ich habe keine Lust mehr dafür gerade zu stehen. Ich habe keine Lust mehr zu umarmen, loszulassen, wieder zu umarmen, zu tragen, wegzugehen, zurückzukommen, zu trösten, zu verstehen, zu verschwinden, um sofort wieder herzukommen und nicht mehr weg zu gehen. Ich bin erschöpft weil ich tue und nichts zu helfen scheint. Ich bin müde. Emotional ganz fest müde.“

Und ich denke diesen Gedanken. Ich fühle ihn sogar körperlich. Und dann schellte ich mich dafür. „Wie kannst du nur! Dein Kind braucht dich, du bist erwachsen, du kennst das Leben, du musst Verständnis haben! Du weisst es doch besser.“ Aber ich weiss es eben nicht besser, wie auch? Ich kann nur versuchen, so gut wie möglich da zu sein. Und ich kann nur versuchen, mir meinen eigenen Raum trotz allem einzugestehen. Und während ich das so versuche, realisiere ich, dass mir dieses emotionale Wirrwarr ganz fest an mein Herz geht. Es zerreisst mich, mein Kind so unsicher zu sehen. Es nagt an mir, wenn sie weint, weil ich zur Arbeit muss. Es schmerzt ganz tief, wenn ich mich von ihrer Hand losreissen muss, weil ich zum Studium muss. Kind, ich liebe dich, siehst du das nicht? Kind, ich komme immer zu dir zurück, fühlst du das nicht? Kind, mein liebes Kind, du bist mein Ein und Alles, ich ertrage deinen Schmerz kaum.

Und so ist ihr Schmerz auch der meinige. Und meiner ist wohl auch ihrer. Und es tut mir ihr – und es tut mit mir. Und wir fliegen wie Blätter in einem Sturm durch all unsere Emotionen. Wir fliegen und werden umher gewirbelt. Mal ganz nah, mal weit voneinander getrennt. Und irgendwann wird der Sturm vorbei sein. Und wir haben wieder festen Boden unter den Füssen. Fühlen die Sicherheit, die wir nun kurzfristig verloren zu haben scheinen.

Ich liebe dich mein Kind, auch wenn dieses Wissen zur Zeit nicht helfen mag. Ich bin da mein Kind, auch wenn du gar nicht weisst, ob du mich überhaupt neben dir haben möchtest. Ich fühle, was du fühlst. Und ich bin gleichermassen verwirrt wie du. Irgendwann finden wir die Sicherheit wieder. Irgendwann wackelt der Boden nicht mehr. Und der Sturm ist vorbei. Und bis dahin werde ich für dich und mich stark sein. Werde deine Hand halten und wieder loslassen. Und ich werde meine Müdigkeit ignorieren, bis die Zeit für meinen Raum dafür wieder Platz zulässt. Ich liebe dich mein Kind, darauf kannst du dich immer verlassen.

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