Denkst du noch oder kommentierst du schon?

Früher war es der alt bekannte Leserbrief. Der musste von Hand oder mittels Schreibmaschine geschrieben und im Umschlag frankiert zur Post gebracht werden. Hürden die sich nicht jeder aufbürden wollte, selbst wenn er eine Meinung zum Thema gehabt hat. So gab es die „immer wieder“ Schreiber, H.A. aus B. oder S.R. aus E. oder wie sie alle hiessen, und es gab die grosse Masse, die sich einfach dachten, was sie so dazu meinten. Eben: Denkst du noch oder kommentierst du schon?

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Heute sieht das alles ein wenig anders aus. Nicht nur kontroverse Themen oder kritische Berichte erhalten Meinungsbeiträge und Kommentare. Auch oberflächliche und inhaltslose Statements werden kommentiert, ja lösen gar manchmal ganze Diskussionen aus – deren Niveau ich jetzt mal als nicht erwähnenswert betitle. Der Leserbrief von früher wich dem einfachen und anonymen Kommentarfeld. Was sich Hunz und Kunz früher einfach nur gedacht haben, kommentiert heute Krethi und Plethi im weltweiten Netz.

Gut, man muss es ja nicht lesen – man kann es ja einfach ignorieren. Ja, kann man – und damit wäre das Thema dieses Beitrags auch erschlossen. Leider hat sich dieses „ich-kommentiere-nach-Lust-und-Laune“ Prinzip in unser gesellschaftliches Miteinander fortgepflanzt. Und da kann man es definitiv nicht mehr ignorieren. Denn es scheint so, als würden wir alle mit einer „Bitte hinterlasse hier deinen Kommentar“ Ampel auf dem Kopf in der Weltgeschichte rumlaufen.

Irgendwann 2013 – meine erste Tochter ist circa 8 Monate alt und ich befinde mich an einem Gartenfest. Das Wetter ist gut, wenige Wolken befinden sich am blauen Himmel, welche uns vor der totalen Bestrahlung schützen.

Frau R: Ui, ihr Kind hat bestimmt kalt?

Ich: ??? (muss mich erst umdrehen, ich habe die Frau gar nicht gesehen)

Frau R: Das kleine Schätzelchen hat doch bestimmt kalt, es hat ja gar kein Deckchen.

Ich: Ähm, nein, sie hat nicht kalt.

Frau R: Ja aber das Schätzelchen, kurzarm im August?

Ich: Nein, ganz bestimmt, sie hat nicht kalt.

Frau R: Wir hatten früher den Kindern nie kurzarm im August angezogen.

Ich: Tja, ähm…

Frau R: Und einen Sonnenhut trägt das Schätzelchen auch nicht, das kriegt doch einen Sonnenstich.

Ich: ???

Ab diesem Moment kam dann mal wieder dieser „point-of-no-return“ bei mir. Meine sonst ganz soziale Art und liberale Haltung gegenüber dem Anders-Sein-Anders-Denken verabschiedete sich und ich mutierte zum sprichwörtlichen „Kotzbrocken“. A la „wenn-Blicke-töten-könnten“ stierte ich die Frau an und keifte: SIE.HAT.NICHT.KALT.ICH.KENNE.DAS.KIND.SCHON.SEIT.ACHT.MONATEN.DANKE!

Und das, ihr Lieben, ist nur ein Beispiel von vielen, welchen ich schon begegnet bin. Kennt ihr, oder? „Liebe Frau, ihr Kind schleckt gerade das Kuhstallgeländer ab!!!“ „Danke für die Info!“ „Liebe Frau, ich sagte: ihr Kind SCHLECKT das KUHSTALLGELÄNDER ab!“ „Jajajajajajaja, es stirbt nicht daran, danke“. Die Frau schaut mich darauf hin angeekelt an.

Ganz geschweige von den lieb gemeinten Erziehungsvorschlägen Wildfremder im öffentlichen Leben. Warum zum Teufel denken die Menschen ständig, man hätte sie telepathisch um ihren Rat gefragt? Oder diese „Fingerzeig-Ausdrücke“ – die machen mich ranzig. „Sie trinken keine Kuhmilch? Auch die Kinder nicht? Herrje, da mangelt es natürlich an Calcium, kein Wunder.“ „Nicht getauft??? NICHT GETAUFT??? Grundgütiger!“

Aha, Sie arbeiten 60%? Die armen Kinder, FREMDBETREUT!

Aha, Sie arbeiten nicht mehr seit sie Mutter/Vater sind? Also NUR Hausfrau/Hausmann!

Aha, Sie haben auch während der Schwangerschaft Sport gemacht? Das schadet doch!

Aha, Sie geben Ihre Kinder öfters zum Hüten und verreisen? Wie egoistisch!

Aha, Ihre Kinder gehen nicht in’s Frühförder-Englisch-Russisch-Mandarin? Das wird man merken!

Danke, du liebe Mitmenschheit – wer hat dir nur gesagt, dass man ständig alles kommentieren muss. Ich vermisse die Leserbrief-Zeit, da gab es von der hartnäckigen Sorte, welche ihre Meinung stets öffentlich kundtun musste, eine Handvoll. Heute kommentiert jeder – alles – immer. Und oft ist das Kommentierte nicht mal mehr auf Gedanken basiert – so dumm wie die Aussagen teilweise daherkommen. Da hat vorher kein Gedankengang stattgefunden, nein. Nicht nur dass es nervt, von allen Seiten stets eine Meinung zu hören. Es fördert auch die heutige Engstirnigkeit und fehlende Offenheit. Leben und leben lassen – klappt leider nicht mehr. Vegetarier – das sind doch Körnchenpicker. Veganer – die haben so oder so nicht alle Tassen im Schrank. Fleischliebhaber – sind doch dumm wie Brot. Katholisch – herrje, im Mittelalter stecken geblieben? Muslimisch – per se abgeschrieben, sorry. Ohne Religion – armes Kind, darf nicht mal in den Religionsunterricht. Lesbisch – nur in Männerphantasien akzeptabel. Schwul – pssst, nicht zu laut, das sagt man nicht, TABU! Kinderlos – was für unglückliche Menschen. Eltern – was für unglückliche Menschen. Und so weiter und so fort.

Das stinkt mir, diese Engstirnigkeit. Ich will keine Meinung zu mir und meinem Dasein – schliesslich muss das ja nur für mich und meine beiden Kinderleins sowie für meine bessere Superhälfte stimmen. Das gleiche gilt für Familie x und y. Wie und warum man so oder so lebt, man so isst, man so erzieht, man so denkt und sich engagiert. Warum wird das immer so zwangsläufig kommentiert? Es ist mir ein Rätsel. Aber weil es mir eben so stinkt, dass das unsere heutige Gesellschaft krankhaft macht, halte ich dagegen. Ich halte dagegen indem ich meine Kinder so freidenkend wie möglich erziehe. Ob gross oder klein, dünn oder dick, weiss oder schwarz, hetero oder homo, oder was auch immer – Elin und Lara sollen sich allem mit einer Offenheit und Unvoreingenommenheit nähern. Sie sollen jedem und jeder mit Neugier begegnen und nicht vorab schubladisieren. Das ist mein Ziel, dafür arbeite ich.

Mein schönstes Erlebnis kindlicher Neugier und elterlichen Offenheit geschah letzten Sommer. Ich will es euch gerne erzählen. Elin, 2,5 Jahre, Lara 6 Monate – wir sassen mitten in der Stadt Zug und tranken gerade Wasser und assen Apfelschnitze. Neben uns sassen drei Frauen. Eine 50-jährige, eine circa 20-jährige und eine Frau im Rollstuhl, deren Alter konnte ich schwierig einschätzen, sie hatte eine Behinderung. Elin musste ständig zum Rollstuhl schauen, denn die 50-jährige Frau fütterte die im Rollstuhl sitzende Frau mit einem Becher Glacé. Sie konnte es selber nicht. Elin war fasziniert. Aber ich merkte ihr an, dass sie gehemmt war, näher hinzugehen und genauer zu schauen. So fragte ich Elin: „Willst du hingehen und fragen, wieso die Frau das Glacé nicht selber isst?“ Elin wollte, unbedingt, aber sie getraute sich nicht recht alleine. So nahm ich sie an der Hand, wir gingen ganz nah zu den drei Frauen und ich ging neben Elin in die Knie und sagte: „Elin hat gesehen, dass die Frau im Rollstuhl das Glacé von Ihnen zum Essen bekommt. Gerne würde Elin wissen, warum sie das Glacé nicht selber isst.“ Die ältere Frau fing an zu Lächeln und erzählte uns die Geschichte von ihrer Tochter, die an einer muskulären Krankheit leidet, welche sie immer weniger tun lässt. Der Körper spielt nicht mehr mit, gehorcht dem Kopf nicht mehr. Sie erklärte Elin ganz lieb, dass das auch mit dem Reden deswegen nicht mehr klappt, aber dass ihre Tochter noch alles mitkriegt. Ganz genau wie wir. Sie hört, versteht, sieht. Und dann durfte Elin ganz nahe an den Rollstuhl ran, und die Frau darin zeigt ihr alle Knöpfe und Hebel. Sie fuhr sogar einmal ganz schnell im Kreis und wir mussten alle lachen. Wir verabschiedeten uns und da sagte die Mutter: „Danke, Danke Elin und Danke Ihnen. Dass Sie gefragt haben. Nicht nur gestarrt und getuschelt. Denn das kriegt Lea immer mit. Sie merkt die Blicke der anderen und es tut ihr weh. Danke“.

Danke dir liebe Lea, Elin wird sich nun an deine Geschichte erinnern. Ich tue es bereits. Und sie bestärkt mich einmal mehr, gegen das Verurteilen und Engstirnigsein anzukämpfen. Und es in meiner Erziehung als Pflicht zu sehen, meinen geliebten Kindern diese Eigenschaft NICHT anzuerziehen und als Beispiel voran zu gehen. Leben und leben lassen – und weniger kommentieren.

 

 

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